Ich habe an meinem letzten Schweigetag bei einem Spaziergang am Mandichosee die Seele eines Schwanes gefunden. Sie steht jetzt vor mir auf meinem Schreibtisch auf einem kleinen Eisenpodest. Es muss die Seele eines Schwanes sein, denn ein Stückchen weiter des Weges auf der gegenüberliegenden Seite fand ich einen skelletierten Schwan. Weiße Knochen und weiße Federn direkt am Ufer. Diese Seele ist federleicht. Sie sieht aus wie ein Ei aus flauschigen Federn. Ist weich und zart und doch fest. Voller Energie. Zumindest wirkt sie so, denn ich traue mich nicht, sie zu berühren. Sie sieht aus, als würde sie schlafen…
…oder als würde sie warten. Menschen spazieren am See entlang. An ihr vorbei. Die Sonne scheint und es ist warm. Sie unterhalten sich, schauen auf den See. Die Seele sehen und beachten sie nicht. Sie ist so auffällig im sattgrünen Gras. Wartet sie auf mich? Weil ich sie sehen kann? Warum kann ich sie bemerken?
Ich mache 2 Fotos und gehe weiter. Ist sie real? Auf den Fotos auf jeden Fall schon. Ich habe mich nicht getraut, sie aufzunehmen und mit mir zu nehmen.
Ich wandere weiter am Seeufer entlang, ca. 2 Stunden. Die Seele ist dabei die ganze Zeit sehr präsent in mir.
Auf dem Rückweg hoffe ich, dass sie noch da ist und auf mich wartet und wenn ja, ob ich sie dann mitnehmen darf. Ich bin aufgeregt.
Schon von Weitem leuchtet sie mir mit ihrem reinen Weiß entgegen. Sie strahlt. Ich erhalte die Erlaubnis, sie aufzunehmen. Als ich sie hochhebe bin ich über ihr Gewicht erstaunt. Da ist nämlich keines. Sie ist so leicht wie die Luft.
Sie steht vor mir auf einem Eisenständer. Die Plattform neigt sich seitlich unter ihrem Gewicht. Sie reagiert auf jeden noch so feinen Hauch meines Atems.
Unsere Seelen sind zutiefst empfindsame Wesen. Sie reagieren auf jede kleine, kleinste Beeinflussung von Außen. Sie kehren dann allerdings jedes Mal wieder in ihre natürliche Ausgangsstellung zurück.
Wenn wir sie lassen…
Das bedeutet wohl, daß sie zugleich sehr verletzlich und sehr stark sind.